Da ist er wieder, dieser eine Tag. Obwohl ich mir im Vorfeld fest vorgenommen habe, ihn als „Happy survival day“ zu feiern, holt es mich jetzt ein. Ganz so einfach ist es eben doch nicht.
Mein Blick wandert minütlich zur Uhr. „Noch eine Stunde“ – flüstert es in meinem Kopf. Es tauchen Bilder vor meinem inneren Auge auf. Ich denke darüber nach, wie dieser Morgen verlaufen ist. Vor dem Unfall. Es fühlt sich an wie ein anderes Leben. Ich könnte mich jetzt ablenken, irgendetwas tun, um nicht daran denken zu müssen. Aber ich lasse diese Gedanken zu.
Irgendwie fühlt es sich richtig an, innezuhalten und alles Revue passieren zu lassen. Ich lese mir durch, was ich vor einem Jahr geschrieben habe. Ich erkenne so viel Schmerz, so viel Wut und Unverständnis.
Ich bin jetzt viel weiter. Es ist so unheimlich viel passiert im letzten Jahr. Der „Unbekannte“ ist nicht mehr ganz so unbekannt. Es gibt einen Namen und ein Gesicht. Und einen sehr persönlichen Kontakt zu seiner Mutter. Das hatte ich mir letztes Jahr so sehr gewünscht. Es war ein großes Puzzleteil im Prozess der Verarbeitung.
Körperlich habe ich eine wahnsinnig tolle Entwicklung gemacht. Dass ich jemals wieder so „fit“ werde, hätte ich nicht für möglich gehalten. Es war harte Arbeit und ich habe viele Tränen vergossen, aber jede einzelne war es wert.
Auch psychisch habe ich einen enormen Sprung gemacht. War ich mir vor einem Jahr noch sicher, dass ich nie wieder Autofahren kann, habe ich mit meiner VW-Bus-Tour das Gegenteil bewiesen. Ich war sogar stark genug, um meinen größten Dämonen zu besiegen: Ich bin an der Unfallstelle vorbeigefahren.
Einen Großteil dieses Prozesses verdanke ich Emma, die mich jeden Tag auf eine Art gefordert hat, wie ich es selber nicht gekonnt hätte. Ich war, bevor sie in mein Leben getreten ist, an meiner persönlichen Grenze. Manchmal braucht es eben doch den äußeren Einfluss, um nochmal über sich hinauswachsen zu können.
Und trotzdem gab es im letzen Jahr all die dunklen Stunden, unendliche Traurigkeit und das Scheitern einer Liebe; meiner großen Liebe. Wir haben es nicht geschafft. Unsere kleine Familie gibt es nicht mehr. Wenn man gemeinsam etwas so Schreckliches erlebt, denkt man eigentlich, dass nicht mehr viel passieren kann, um eine Partnerschaft zu erschüttern. Aber das kann es, das weiß ich jetzt. Wir sind nicht an der Katastrophe gescheitert, sondern am Alltag. An der Leere danach, der Stille, die uns immer wieder eingeholt hat, an der vermeintlichen Perspektivlosigkeit. Jeder von uns beiden ist damit so umgegangen, wie er es eben konnte. Und da könnten wir gegensätzlicher nicht sein. Schwarz und weiß, aber nicht ying und yang. Wir haben uns unterwegs verloren. Was bleibt, ist die Erinnerung. Und auch eine ganz besondere Verbindung, denn nur wir beide wissen genau, was heute vor zwei Jahren passiert ist. Auch wenn es kein gemeinsames Leben mehr gibt, dieses eine WIR wird für immer bleiben.
Jetzt ist es 10.50 Uhr. „Noch 10 Minuten, dann crashen wir.“ Die Bilder, die darauf folgen, lasse ich nicht zu. Sie sind ein einziger, großer Schmerz. Ich schnappe mir jetzt meinen Hund und drehe eine große Runde durch den Wald. Danach kuscheln wir uns vor das Kaminfeuer und lassen diesen Tag vergehen. Mit gemischten Gefühlen, aber auch mit großer Dankbarkeit. Denn ich bin am Leben. Happy survival day!
Alles Gute weiterhin!
Danke ❤