Ich hatte schon länger die vage Ahnung, dass nicht von heute auf morgen alles wieder super ist. Das konnte einfach nicht sein. Zweieinhalb Jahre mögen sich wie eine lange Zeit anfühlen, für die Verarbeitung eines schweren Traumas ist es jedoch überhaupt nicht lange.
Ich wusste, dass da noch mal was kommen wird, irgendeine neue Herausforderung, die es zu meistern gilt. Mir ging es einfach viel zu lange viel zu gut. Dieses überschäumende Glücksgefühl, welches ich in den vergangenen Monaten empfunden habe, war irgendwie nicht ganz realistisch, manchmal schon fast gespenstisch. Aber dass es tatsächlich noch mal so dunkel wird, hätte ich nicht für möglich gehalten.
Jeder von uns hat ab und zu mal einen „Depri-Tag“, oder? Da wacht man morgens auf und denkt sich, dass doch eigentlich alles Mist ist. Vielleicht hat man grad eine Job-Absage gekriegt, ein Date ist geplatzt, man fühlt sich zu dick, träge und außerdem regnet es auch noch in Strömen. Dann zieht man, wenn man kann, einfach die Decke über den Kopf, knallt sich den ganzen Tag Serien rein, bestellt Pizza und hält es einfach aus. So mache ich es jedenfalls, bisher. Nach spätestens zwei Tagen gehe ich mir selber total auf die Nerven, reiße die Fenster auf, packe meine Sporttasche, power mich so richtig aus, putze die Wohnung, drehe die Musik auf und koche mir was Schönes… Und schon ist es überstanden.
Dieses Mal ist es anders. Ich schleppe schon seit einigen Wochen etwas mit mir rum, was ich gar nicht mal so richtig in Worte fassen kann. Es ist sehr dunkel und traurig und es geht nicht weg. Zumindest nicht so, wie es bisher immer weggegangen ist. Erst habe ich gedacht, ich bin einfach nur erschöpft – ich habe zur Zeit sehr starke Schmerzen – also habe ich mich einfach drei Tage lang ins Bett gelegt und so viel geschlafen wie möglich. Aber dadurch wurde es nur noch schlimmer. Ich bin überhaupt nicht mehr richtig wach geworden. Mein Kopf war wie in Watte gepackt.
Ich kenne mehrere Menschen, die regelmäßig mit ernsthaften Depressionen kämpfen und weiß sehr viel darüber. So weit möchte ich aber überhaupt nicht gehen, denn Depression ist eine ernsthafte psychische Krankheit, an der ich ziemlich sicher nicht leide – ich bin wirklich überhaupt nicht der Typ dafür. Trotzdem bekomme ich eine Ahnung davon, wie es sich anfühlen muss. Ich hänge grad in einer extrem hartnäckigen, „echten“ depressiven Phase fest und bin das erste Mal wirklich ratlos, weil ich mich einfach nicht daraus befreien kann.
Aber was ist denn eigentlich los? Gar nichts, das ist es ja. Es gab keinen konkreten Auslöser, es ist nichts vorgefallen. NICHTS. Eigentlich bin ich zufrieden, oder sollte es zumindest sein. Ich habe einen tollen Job, einen megatollen Hund, (momentan) eine schöne Wohnung, bin gerne Single und genieße es sehr, auch das Alleinsein, habe meine Familie und Freunde um mich, bin viel unterwegs – es gibt überhaupt keinen Grund.
Und trotzdem wurde es ganz langsam immer dunkler um mich herum. Mittlerweile habe ich fast gar keinen Antrieb mehr für irgendwas. Also nicht ganz – denn natürlich arbeite ich auch weiterhin, versorge meinen Hund, gehe zur Physio- und Psychotherapie und halte mich und meine Wohnung in Ordnung. Aber darüber hinaus schaffe ich rein gar nichts. Ich hatte mal ein oder zwei Tage, da habe ich so sehr mit mir geschmipft, dass ich mich am Ende doch irgendwie zum Sport oder zu einem Treffen mit Freunden aufgerafft habe. Aber gerade als ich dachte, jetzt ist der Dämon besiegt, hat er mir wieder auf die Schulter getippt und mich zurück ins Bett geschickt.
Ich habe auch wieder Alpträume. Schlimme Alpträume, fast jede Nacht. Und Panikattacken. Und Angst. Viele meiner Gedanken kreisen um den Unfall, dass große WARUM und die Frage, was das denn überhaupt alles soll, wie mein Leben weitergehen wird, wo ich hin will, was ich hier eigentlich tue. Ich habe auf keine dieser Fragen eine befriedigende Antwort und das frustriert mich sehr. Es fühlt sich an, als wäre ich im Verarbeitungsprozess kilometerweit zurückgeschmissen worden. All die Fragen, die ich mir eigentlich schon beantwortet habe, tauchen plötzlich wieder auf. Und der Schmerz – körperlich, aber vor allem auch psychisch – ist greifbarer denn je. Ich habe eine unglaubliche Traurigkeit in mir, weine viel und bin gleichzeitig auch wütend auf mich, dass ich nicht dankbarer bin und diese Verstimmung einfach nicht in den Griff kriege.
Vielleicht ist das der Schlüssel, – wie schon so oft in meiner Therapie – dass ich selber nicht so hart mit mir ins Gericht gehen sollte. Ich bin sehr streng und kompromisslos mit mir, als Einzelkämpferin gestehe ich mir nur selten einen Moment der Schwäche zu. Es gab aber auch viel zu viele Situationen in den vergangenen zweieinhalb Jahren, in denen ein Moment der Schwäche fatale Folgen gehabt hätte. Irgendwie hat sich dieses „stark sein müssen“ so sehr verinnerlicht, dass es mir sehr schwer fällt, auch mal loszulassen. Oder abzugeben und um Hilfe zu bitten.
Plötzlich aber habe ich das Gefühl, etwas wirklich nicht zu können. Wer von euch schon mal depressiv war, weiß, was ich meine. Man kann einfach nicht aufstehen. Da helfen keine aufmunternden Worte, kein „Du musst dich ’nur‘ aufraffen“ oder „Wenn du im Bett liegen bleibst, wird alles nur noch schlimmer“. Ja, ich weiß das. Aber es GEHT einfach nicht.
Dass ich so etwas wie „es geht nicht“ oder „ich kann nicht“ jemals aussprechen würde – bei all dem, was ich geschafft habe, obwohl es eigentlich nicht hätte gehen dürfen – hätte ich niemals für möglich gehalten. Aber es ist so und es auszusprechen und vor allem aufzuschreiben, tut gut. Dem Dämon ins Gesicht zu sehen, statt ihn zu ignorieren, hilft mir auch. Noch nicht genug, um ihm zu sagen, dass er gehen soll, aber vielleicht ist das ja der erste Schritt in die richtige Richtung. Ansonsten kann ich es grad nur aushalten und darauf hoffen, dass es irgendwann von alleine wieder weggeht.
Eine wichtige Erkenntnis habe ich allerdings jetzt schon gewonnen: Es ist noch nicht vorbei. So sehr ich mir das auch wünsche, vermutlich wird es solche Phasen immer wieder geben. Ich kann nicht einfach so tun, als wäre nie etwas passiert und als würde es mir uneingeschränkt gut gehen. Das gesunde Mittelmaß finden, das ist wohl jetzt meine Aufgabe. Traurigkeit zulassen, Schmerz akzeptieren und nicht alles in mich reinfressen und Stärke mimen, obwohl ich eigentlich einen Moment der Schwäche habe. Ich muss unbedingt sorgsamer mit mir umgehen, meine Kraft besser einteilen und mir Phasen zugestehen, in denen es auch mal ein bisschen dunkler sein darf.
Und eines darf ich vor allem nicht vergessen (puh, das fällt mir momentan wirklich schwer!) – wo Licht ist, ist zwar auch Dunkelheit, aber die Sonne geht trotzdem irgendwann wieder auf.