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Status quo – 831 Tage später

Es ist mal wieder an der Zeit für ein ausführliches Update – ich war kurz davor „Fazit“ zu schreiben, aber das ist doch etwas zu weit vorgegriffen. Aber vielleicht signalisiert das schon die Richtung, in die ich mich momentan bewege.

Wo fange ich nur an? Wenn ihr meine letzten Artikel gelesen habt, vor allem den über das Glücklichsein, wisst ihr bereits, dass ich einen enormen Sprung gemacht habe. Ich bin versucht zu sagen „Mir geht es wieder gut“, aber ganz so einfach ist es auch nicht.

Zuerst einmal zur Gesundheit: Im Februar habe ich ja erfolgreich meine vorerst letzte Operation hinter mich gebracht. Das Metall im Schlüsselbein, Hüfte (eigentlich os sacrum), Knie und Unterschenkel wurde entfernt. Geblieben ist mir jetzt noch ein langer Nagel im Oberschenkel und eine Schraube im Sprunggelenk. Ich wäre gerne komplett metallfrei, nach mehreren Gesprächen mit meinen Unfallchirurgen habe ich allerdings eingesehen, dass das Risiko, mehr kaputt zu machen, doch etwas zu hoch war. Schraube und Nagel sind bereits zu sehr eingewachsen. Schon bei den Schrauben im Sacrum gab es große Probleme, was die Operation von angesetzten 1,5 Stunden auf locker 4 Stunden erhöht hat. Ich bin meinem operierenden Arzt sehr dankbar, dass er die Schrauben trotzdem rausgewurschtelt hat, aber dazu gleich mehr.

Fangen wir mal oben an: Das Schlüsselbein ist super verheilt, die Narbe schön genäht, einzig eine Taubheit in der linken Schulter ist leider geblieben. Die Entnahmestelle der Transplantationshaut auf dem Oberschenkel ist kaum noch sichtbar (es gibt einen kleinen Strukturunterschied, ähnlich wie bei Cellulitis). Die Verletzung am Sacrum hat mir große Probleme bereitet. Es war zwar nicht ganz klar, ob die Beschwerden auf die Schrauben zurückzuführen sind, das weiß ich nun aber mit Sicherheit. Schon bei der kleinsten Anstrengung (kleine Steigung gehen, Staubsaugen, Einkaufstasche tragen) schoss mir ein brennender Schmerz in den unteren Rücken, der kaum länger als ein paar Minuten auszuhalten war. Das ist jetzt weg! Geblieben ist dieser Schmerz zwar trotzdem noch dumpf, er tritt aber nur bei wirklicher Anstrengung auf (Crosstrainer im Fitnessstudio), dafür trainiere ich jetzt intensiv den unteren Rücken, um das vielleicht auch noch irgendwann in den Griff zu kriegen.
Der Oberschenkel ist eigentlich beschwerdefrei, auch da zieht es hin und wieder nach langen Spaziergängen oder nach dem Sport etwas, aber hey, was soll’s. Durch die Entfernung der Verriegelungsschrauben im Knie hab ich eine ganz neue Bewegungsfreiheit!

Ja und mein kleiner Krüppelfuß? Der bleibt natürlich mein Sorgenkind. Optisch ist alles ganz fantastisch verheilt (s.Fotos), die Transplantationshaut hat sich super entwickelt, ich habe kaum noch Verklebungen und farblich hat sich alles toll angepasst. Ich gehe aber weiterhin einmal die Woche zur Narbenmassage und Physio, das Potenzial ist ganz bestimmt noch nicht ausgeschöpft. Schmerzen habe ich noch jeden Tag, mal mehr mal weniger, meistens gut erträglich, nach anstrengenden Tagen muss ich aber dann einen Ruhetag einlegen. Leider sind die Nerven nachhaltig geschädigt und werden sich wahrscheinlich jetzt auch nicht mehr regenerieren. Der halbe Fuß und der große Zeh sind taub, es gibt auch kleine „Nervenstörungen“ und falsch verzweigte Verästelungen (z.B. habe ich das Gefühl, mir fasst jemand an den großen Zeh, obwohl er eigentlich eine Stelle auf dem Fußrücken berührt).

Ich glaube, der wichtigste Punkt war, den Zustand einfach zu akzeptieren. Ich habe lange dagegen angekämpft und den Fuß als etwas „Böses“ betrachtet. Irgendwann habe ich mich einfach damit abgefunden und ihn als einen positiven Teil meines Körpers angenommen. Und plötzlich ging es nochmal ein ganzes Stück weiter. Im Alltag sieht man es mir nicht mehr an, ich humpel nicht mehr oder nur noch selten, versuche bei allem mitzumachen, nehme mir aber auch genug Auszeiten, bin nicht mehr so verbissen und sage jetzt auch, wenn ich nicht mehr kann.
Nach dem Unfall hatte ich durch den Bewegungsmangel (und die eigene Trägheit) gut 8 Kilo zugenommen, das hab ich jetzt durch ausgewogene Ernährung und Sport wieder abgenommen (und noch ein bisschen mehr), was den Fuß natürlich zusätzlich noch mal entlastet. Insgesamt fühle ich mich fit und stark und habe ein sehr positives Körpergefühl.

Psychisch ist es etwas durchwachsen. Im Großen und Ganzen kann ich sagen, dass es mir „gut“ geht. Ja eigentlich sogar sehr gut. Allerdings bin ich mir noch nicht ganz sicher, ob das wirklich nachhaltig ist. Momentan fahre ich eine Vermeidungstaktik. Ich habe so dermaßen die Schnauze voll von dem Unfall und den Gesprächen darüber, dass ich einfach alles, was damit zu tun hat, (vorläufig) aus meinem Leben verbannt habe. Meine Theorie ist, dass das tatsächlich in Ordnung ist, ich habe mich fast zwei Jahre so intensiv damit auseinandergesetzt und alles beackert und bis zum Umfallen gedreht und gewendet, dass die jetzige Phase in meinen Augen ganz selbstverständlich ist. Ich möchte einfach „normal“ sein. Wenn ich neue Leute kennenlerne, rede ich überhaupt nicht mehr darüber. In meinem Freundeskreis ist es nicht ständig Thema, und wenn ich mal einen Stuhl brauche, wird er mir hingestellt, aber es wird nicht thematisiert. Ich finde das großartig!

Was damit leidet einhergeht, ist ein Rückzug von den Menschen, die mich ständig wieder damit konfrontieren (deswegen bin ich mir auch noch nicht sicher, ob das gut ist – ich nehme das aber wirklich jetzt mal als „Phase“ und somit kann ich das akzeptieren). Ich war lange nicht mehr bei meiner Therapeutin, ich gehe Menschen bewusst aus dem Weg, von denen ich weiß, dass sie mich über meinen Zustand löchern und mit diesem „traurigen Blick“ angucken und auch den Kontakt zur Familie des Unfallverursachers kann ich gerade nicht halten. Ich schäme mich etwas dafür, weil ich es als egoistisch empfinde und das überhaupt nicht meinem Charakter entspricht, anderseits schaffe ich es auch einfach grad nicht. Ich hoffe, dass ich da bald ein gesundes Mittelmaß finde.

Ich habe hin und wieder noch einen Flashback, Panikattacken kommen ganz leise angekrochen, der ein oder andere Alptraum besucht mich in der Nacht und im Straßenverkehr bewege ich mich immer noch recht unsicher und ängstlich.

Aber – das Wichtigste für mich ist, dass ich endlich wieder glücklich sein kann. Und in gewisser Weise auch „frei“. Ich hätte das niemals für möglich gehalten. Wenn ich daran denke, wie oft ich kurz vorm Aufgeben war, erfasst mich eine Welle des Glücks und der Dankbarkeit, die kaum aushaltbar ist. Ich habe mal gesagt „Auch wenn ich psychisch wieder gesund werde und die PTBS in den Griff kriege, hat er (der Unfallverursacher) mir doch meine Unbeschwertheit und Freiheit genommen. Ich werde niemals mehr mit Unbefangenheit auf das Leben blicken können.“ Das stimmt auch immer noch, was ich aber damals noch nicht wusste ist, dass mir das Wissen um die Zerbrechlichkeit des Lebens auch sehr viel mehr Wertschätzung für jeden einzelnen Moment gibt.

 

 

2 Gedanken zu „Status quo – 831 Tage später“

  1. Hallo Jule!
    Das klingt doch im großen und ganzen sehr danach,dass du auf einem guten Weg bist,auf dem Weg dich selbst wieder zu finden oder vielleicht auch ein Stück weit neu zu finden!
    Ich freue mich sehr mit dir über die körperlichen Fortschritte, über all deine Siege, die du dir teilweise sehr schmerzhaft erkämpfen musstest!
    Ja,ich denke Du hast vielen von uns etwas sehr wertvolles voraus!du weißt die kleinen Dinge zu schätzen, weisst, dass man auch bei scheinbar unscheinbarem innehalten sollte! Dafür hast Du unbenommen einen sehr hohen Preis bezahlt! nichts und niemand kann die Zeit zurück drehen und alles ungeschehen machen! aber Du zeigst uns allen,dass NICHT aufgeben der richtige Weg ist!geh diesen Weg weiter!
    Ich freue mich unendlich darüber!
    Liebe Grüße!
    Kiki
    PS: kraul doch bitte Emma einmal kräftig hinter den Ohren von mir

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