Als ich neulich meine Handy-Notizen durchgegangen bin, blieb ich sofort an einem „Zettelchen“ hängen. Es stand dort: Leben – Überleben. Ich weiß nicht mehr genau, in welcher Situation ich das ‚mal schnell‘ in mein Handy getippt habe, es kamen aber sofort viele Emotionen hoch und ich wusste genau, was ich damit gemeint habe.
Es gibt einen gewaltigen Unterschied zwischen diesen beiden Worten, die sich so ähnlich und doch so weit voneinander entfernt sind. Ich kenne diesen Unterschied und möchte euch gerne erzählen, wie es sich anfühlt.
„Ich lebe ja noch“ – das war mein erster Gedanke, als ich nach der achtstündigen Notoperation aufgewacht bin. Kurz darauf bin ich in Tränen ausgebrochen und sofort wieder weggedämmert. Ich konnte es wirklich nicht glauben. Unter dem Ketamin, welches sie mir noch am Unfallort gespritzt haben, habe ich stark halluziniert (in meinen Augen ist das auch tatsächlich der Auslöser für die PTBS gewesen). Ich habe gesehen – und vor allem gefühlt – wie ich sterbe. Es war ganz klar für mich. Und es hat sich verdammt schlimm angefühlt. Ich habe mich unheimlich dagegen gewehrt, hatte panische Angst und war verzweifelt. Wenn die Realität plötzlich verschwommen ist und man nicht mehr weiß, was echt ist und was Einbildung, ist man – ich zumindest – absolut hilflos. Ich erinnere mich dumpf an einen Moment, während meines „Halluzinationstodes“, da muss ich wahnsinnig gebrüllt und geweint haben. Ich wollte ja schließlich noch nicht sterben. Plötzlich habe ich eine Hand auf meiner gespürt und eine Frauenstimme hat gesagt: „Sie werden heute nicht sterben, das verspreche ich Ihnen.“ Ich habe dieser Stimme vertraut und losgelassen. Und ich bin nicht gestorben. Ich habe überlebt. Aber habe ich gelebt? Nein. Für sehr lange Zeit nicht.
Es hat fast zwei Jahre gedauert, bis ich mich tatsächlich zurück ins Leben gekämpft habe. Zwei sehr lange und anstrengende Jahre, in denen es eigentlich nur ums Überleben ging, um das Aushalten eines Zustandes, das Kämpfen um ‚Lebens’qualität. Ein Leben in der Zukunft. Alles war darauf ausgerichtet, dass es irgendwann besser wird. Dass es wieder „gut“ wird, den Umständen entsprechend. Es war wenig Raum für die Gegenwart. Im Hier und Jetzt leben mit all den Schmerzen – das konnte ich lange Zeit nicht aushalten.
Das bedeutet für mich ÜBERLEBEN.
Und LEBEN – das kann ich erst jetzt wieder. Seit einigen Monaten. Stück für Stück, Tag für Tag ein bisschen mehr. Ich kann wieder Glück empfinden, ich habe Freude am Alltag mit all seinen Banalitäten, Höhen und Tiefen. Ich habe akzeptiert, was passiert ist und kann der Gegenwart ins Auge schauen mit all dem, was übrig geblieben ist an Verletzungen, sowohl psychisch als auch physisch. Ich schaue ohne Groll zurück, ohne Wut und Traurigkeit. Ich beginne jeden Tag aufs Neue mit einer nie dagewesenen Neugierde und einem Hunger auf das Leben. Und – ich habe verziehen. Das ist für mich der Schlüssel zum Leben, das ist LEBEN.
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