Stellt euch vor, ihr habt einen Auffahrunfall. Die Schuldfrage ist schnell geklärt, man tauscht Daten aus, gibt diese an die Versicherung weiter und der Schaden wird reguliert. So läuft es normalerweise. Leider nicht bei uns. Es ist nicht so einfach, über die genauen Hintergründe unseres Unfalls zu schreiben, denn um ehrlich zu sein, der Einzige, der ganz genau weiß, was passiert ist und vor allem warum, ist der Unfallverursacher.
Für mich als Opfer haben sich die vergangenen 14 Monate wie Kaugummi gezogen. Warum? Ich weiß, dass ich zu 100% unschuldig bin. Trotzdem gab es offenbar ein paar Ungereimtheiten, über die ich hier aber nicht schreiben werde, weil ich eben außer Spekulationen gar nicht mehr sagen kann. Dafür ist das alles zu schwammig. Die gegnerische Versicherung hat sich jedenfalls vorläufig geweigert, die Haftung zu übernehmen, so lange „die Schuld- und Haftungsfrage nicht eindeutig geklärt ist“. 14 Monate – das ist eine lange Zeit. Wir reden hier vom reinen Überleben. Und natürlich von Geld. Zum Zeitpunkt des Unfalls war ich maximal unabgesichert.
Jung, motiviert, Existenzgründerin. Mein Arbeitslosengeld ging bis Dezember, ab Dezember habe ich den Existenzgründungszuschuss vom Arbeitsamt bekommen. Ich war selbstständig, hatte einen Existenzgründungskredit aufgenommen und zum Teil auch schon wieder investiert, aber noch ohne Einkommen. Mein Starttermin war der 01.03.2016. Nun könnt ihr mich für naiv halten, aber in den ersten Monaten der Selbstständigkeit zählt jeder Cent. Also spart man, wo es nur geht. Ich hatte keine Unfallversicherung, keine Rechtschutzversicherung, keine Arbeitslosenversicherung,… Das war zwar alles in zeitnaher Planung bzw. sogar schon abgeschlossen, griff aber erst frühstens ab dem 01.03.2016. Und mal ehrlich – wer konnte ahnen, dass so eine schreckliche Katastrophe passiert?
So und was passiert nun nach so einem Unfall? Kaum ist man wieder halbwegs wach und zurechnungsfähig, flattert auch schon die erste Rechnung rein. Denn bezahlt werden wollen alle, möglichst zeitnah. Das fängt an beim Abschleppservice, Stellkosten für das kaputte Auto, Gutachter, Verschrottung usw. Bei allem muss man erst einmal in Vorleistung gehen. Ich habe jedes Mal versucht, eine Abtretungserklärung zu erwirken (d.h. ich zahle nicht und sie holen sich das Geld direkt bei der Versicherung wieder), wurde von allen abgelehnt. Weiter geht’s mit Zuzahlungen für Krankenhausaufenthalt und Hilfsmittel, Physiotherapie, Medikamente. Und schon waren tatsächlich mehrere tausend Euro zusammen. Und mein letztes Gespartes war plötzlich aufgefressen, meine Familie musste mir finanziell unter die Arme greifen.
Dann folgt die Arbeitsunfähigkeit und der damit verbundene Verdienstausfall. Nun ist man ja eigentlich in Deutschland einigermaßen abgesichert im Falle des Falles. Aber auch hier ist es leider nicht so einfach. Ich besitze ein Auto (welches noch nicht abbezahlt ist), ein kleines Wochenendhaus (welches noch nicht abbezahlt ist), eine von den guten, alten Lebensversicherungen. „Vermögen“ ist das. Meine Wohnsituation ist auch etwas komplizierter. Ansprüche auf Sozialleistungen habe ich deshalb jedenfalls nicht. Ich habe versucht, irgendeine Art von Sozialkredit für außergewöhnliche Lebensumstände zu bekommen. Ging nicht. Waldhaus verkaufen oder Lebensversicherung auflösen? Dazu war ich ehrlich gesagt nicht bereit. Ich habe schon genug meiner Träume und Pläne verloren. Mein Waldhaus verteidige ich bis zum letzten Moment. Nun habe ich das große Glück, eine fantastische Familie und tolle Freunde zu haben, die hinter mir standen und mich jederzeit (finanziell) unterstützt haben. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie es ist, wenn man diesen Rückhalt nicht hat.
Zwischendurch gab es einen kurzen Moment der Ruhe, die Versicherung zahlte im Sommer tatsächlich einen Vorschuss, unter Vorbehalt der Rückforderung. Das reichte, um die größten Löcher zu stopfen und kurz durchzuatmen. Die darauffolgende Zeit der Unsicherheit war schlimm. Tatsächlich herrschte ein ständiger, unterbewusster Druck, da ich nie wusste, wann es wie weitergeht. Und ja klar, meine Gesundheit bekomme ich nicht wieder, mein Business werde ich so vermutlich auch nicht mehr aufbauen können, das Einzige, was an dieser ganze Sache positiv sein könnte, wäre eine entsprechende finanzielle Entschädigung. Und die ließ auf sich warten.
Und dann kam der ersehnte Tag. Genau 14 Monate später kam das Schreiben, in dem stand, dass die Versicherung die Haftung übernimmt. Gleichzeitig kam eine Vorschusszahlung. Und plötzlich machte es „peng“ in mir drin und die gesamte Anspannung hat sich in Luft aufgelöst. Da habe ich auch erst gemerkt, wie sehr es wirklich auf mir gelastet hat. Meine anhaltenden Bauchschmerzen der letzten Monate waren so gut wie weg, mein (zu hoher) Blutdruck pendelt sich grad langsam wieder ein. Wahnsinn. Dieser Stein, der mir da vom Herzen gefallen ist, muss Mount Everest Ausmaße gehabt haben.
Natürlich ist es jetzt noch nicht vorbei, es folgen sicherlich zähe und lang andauernde Verhandlungen, Versicherungen wollen ja bekanntlich so wenig wie möglich bezahlen. Aber dafür habe ich eine toughe Anwältin, der ich diese Verhandlungen mehr als zutraue. Ich fange jetzt an, eine Mauer um mich herum zu bauen und muss lernen, dass ich nicht persönlich gemeint bin. Aber zuerst einmal heißt es jetzt: Durchatmen und Kraft tanken, für alles, was noch kommen mag.